Von der Verwicklung hin zur Entwicklung

Wie jeder Mensch war auch ich von klein auf in bestimmte familiäre und gesellschaftliche Strukturen verwickelt – in Erwartungen, Rollenbilder, Normen und Bewertungen. Diese prägten vor allem unbewusst mein Selbstbild und beeinflussten meine Beziehungen zu anderen Menschen. Im Laufe meines Lebens entwickelte ich Überzeugungen darüber, worauf es im Leben ankommt. So entstanden für mich typische Denk- und Verhaltensmuster. Zwar wusste ich nicht, wer ich wirklich war, was ich konnte oder wozu ich fähig war, doch strebte ich nach Bedeutung und Anerkennung, nach Einfluss, nach Status sowie nach materiellen Besitztümern. Im Bemühen, diesen Überzeugungen gerecht zu werden, entwickelte ich Bestrebungen, die ich über Jahre hinweg – oft ohne zu hinterfragen – mit Nachdruck verfolgte. Doch erst in der Krise wurde mir bewusst, dass ich zum Gefangenen meiner eigenen Vorstellungen geworden war – und der Strukturen, die ich aufgebaut hatte, um sie zu verwirklichen. Ich hatte mir gedankliche Verwicklungen erschaffen, die dazu führten, dass mein Denken, Fühlen und Handeln voneinander abgetrennt waren.

Einige dieser inneren Verwicklungen führten zu einem schweren Unfall, dessen Folgen ich bis heute spüre. Es war ein gewöhnlicher Morgen: Ich wachte auf, ging zur Toilette und wollte mich anschließend wieder schlafen legen. Doch aus mir unerklärlichen Gründen bog ich – bevor ich das Bett erreichte – ins Wohnzimmer ab, wo ich das Fenster erblickte. Und plötzlich übernahm der Autopilot: Wie ferngesteuert eilte ich dorthin, öffnete hastig das doppelverglaste Flügelfenster und blickte in das grelle Licht des Tages, das sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Wochen später wachte ich im Krankenhaus auf. Es dauerte, bis ich begriff, was geschehen war: Ich war aus dem Fenster meines Wohnhauses gestürzt – ein freier Fall aus acht Metern Höhe. Heute sitze ich zwar nicht mehr im Rollstuhl, bin aber noch immer auf verschiedene Hilfs- und Pflegemittel angewiesen.

Der Unfall und seine Folgen zwangen mich zu einem tiefgreifenden Umdenken. Viele meiner bisherigen Überzeugungen, Gewohnheiten und Abläufe ließen sich nicht mehr aufrechterhalten – sie mussten hinterfragt und neu gedacht werden. Die Krise forderte mich heraus, ehrlich zu mir selbst zu sein und mich intensiv mit meinen inneren Verwicklungen auseinanderzusetzen. Mit der Unterstützung meiner Familie und wertvoller Wegbegleiterinnen und Wegbegleiter konnte ich viele Hürden überwinden, die sich mir in einer besonders belastenden Lebensphase stellten. Nach vielen Jahren gelang es mir, mich aus den Fesseln meiner inneren Blockaden zu befreien. Ich konnte wieder in Verbindung mit mir selbst treten und begann Schritt für Schritt, mich selbst und mein wahres Potenzial zu entwickeln.

Das Projekt UmDenkSeiten liegt mir am Herzen. Es basiert auf der tiefen Überzeugung, dass es im Kleinen wie im Großen ähnlich verläuft. Wie ich einst in einer persönlichen Krise steckte, befindet sich auch unsere Gesellschaft in einer tiefgreifenden Krise. Auch sie ist verwickelt in überkommene Glaubenssätze und Weltbilder – in Denk- und Verhaltensmuster, die einst wirtschaftliches Wachstum anstrebten, um Freiheit und Wohlstand zu sichern, heute jedoch zunehmend in eine Sackgasse führen. So wie ich damals meine Zukunft aus den Augen verlor, scheint auch die Gesellschaft ihre Orientierung eingebüßt zu haben. Noch immer hält sie an althergebrachten Narrativen fest, die ihr oft alternativlos erscheinen, jedoch keine lebenswerte Zukunft eröffnen. Weite Teile unserer Gesellschaft streben weiterhin nach Macht, Dominanz und Kontrolle – ebenso nach Geld, Reichtum und Luxusgütern. Dabei passiert es nicht selten, dass sie im Streben nach Überlegenheit und in einer taumelnden Gier nach Größe den Zugang zu sich selbst verlieren.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, welche heilsame Kraft von Visionen ausgehen kann – gerade in Zeiten der Krise. Ich habe Menschen mit Herzensweite schätzen gelernt, die an meinem Krankenbett standen und mir Mut zusprachen: „Es wird wieder besser – das braucht Zeit.“ Und genau deshalb möchte ich heute am Krankenbett unserer Gesellschaft stehen und ihr, mit Gerald Hüthers Worten, Mut zusprechen:

„Aber vielleicht braucht unsere gegenwärtige Welt diese Krisen, damit sich das endlich entwickeln und ausbreiten kann, was erfolgsverwöhnten Menschen am allerschwersten fällt: in sich hinein spüren, sich wieder mit dem verbinden, was unser Menschsein ausmacht, sich aus den eigenen Verwicklungen befreien und sich mit den aus den eigenen Fehlern gewonnenen Erkenntnissen auf den Weg machen. Bewusster, mitfühlender, verständiger, achtsamer, kreativer, mutiger und vor allem liebevoller als bisher.“


Hüther, Gerald: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen des metamodernen Selbstverständnisses, in: Maik Hosang und Gerald Hüther, Die Metamoderne. Neue Wege zur Entpolarisierung und Befriedung der Gesellschaft, Göttingen 2024, S.54. Die im Text verwendeten Begriffe „Verwicklung“ und „Entwicklung“ orientieren sich an den Konzepten von Gerald Hüther und seinem Ansatz der neurobiologischen Persönlichkeitsentwicklung. Hüther, Gerald: Die Entfaltung der in uns angelegten Potenziale – Von der Verwicklung zu Entwicklung, Audio-CD, Auditorium Netzwerk, 2020.


Sebastian von Birgelen

Ich studierte an der Universität Leipzig die Fächer Geschichte und Gemeinschaftskunde für das gymnasiale Lehramt. Mein Zweites Staatsexamen legte ich in Berlin ab, wo ich anschließend im Schuldienst tätig war. Im Jahr 2021 wurde ich an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. Heute arbeite ich freiberuflich im Auftrag von Amtsgerichten als Nachlasspfleger und Erbenermittler. Im Jahr 2024 gründete ich die UmDenkSeiten gUG (haftungsbeschränkt) – eine Initiative, die neue Perspektiven auf gesellschaftliche Entwicklungen ermöglichen will.